Mitten im Strom unendlich vieler Geschichten
Der Stuttgarter Autor Rainer Wochele legt ein ungewöhnliches Buch vor „An der Raststätte“.
Von Tim Schleider
Grenzenlose Mobilität – das ist eine der Glücksverheißungen der modernen Gesellschaft, zu Gestalt geworden in einem feingliedrigen Netz an Autobahnen, die sich über das Land erstrecken. Hier gibt es keine Ampeln, keine Zebrastreifen, keine Kreuzungen. Ohne Halt lässt sich so im Fahrzeug reisen über Stunden und Hunderte von Kilometern hinweg – in der Theorie. Und wer trotzdem einmal stoppen will, weil Hunger, Durst, Schläfrigkeit, Rückenschmerzen oder andere Nöte ihn bedrängen, der hat dafür nur sehr begrenzte Möglichkeiten. Eine davon ist die Raststätte – schon viele Kilometer im Voraus angekündigt auf großen blauen Schildern, auf denen als Logo eine Zapfsäule, eine Tasse oder ein gekreuztes Besteck zu sehen sind.
Mit diesen Symbolen lädt auch der Stuttgarter Autor Rainer Wochele auf dem Cover seines jüngsten Werkes ein. „An der Raststätte. – Eine Exkursion“ heißt sein neues Buch, das im endlosen Fluss der Fahrzeuge auf der Autobahn irgendwo auf der A 8 von und nach Ulm den Fokus auf eine kleine, aber genau gegliederte Kette an Einzelschicksalen richtet. Ob Monteur oder Landtagsabgeordneter, Zeitungsausträgerin oder zeterndes Ehepaar, Metzgermeister oder Kunstsammler – für die Länge von ein bis zwei Buchseiten macht Wochele sie zu Helden kleiner Beschreibungen, wie sie da im Strom der Zeit und des Verkehrs den Rasthof ansteuern oder wieder wegfahren.
Wobei der Begriff Schicksal leicht auf die falsche Fährte führt. Ab und an klingt tatsächlich Dramatisches an; hier ist von einer bevorstehenden Beerdigung die Rede, dort sind Flüchtlingsschleuser unterwegs. Aber im Kern interessiert sich dieses Buch doch eher für einen großen Querschnitt durch das alltägliche Leben. Kurioses und Tragisches stehen unmittelbar nebeneinander, aus vielen Einzelbildern wächst über rund hundert Seiten ein Ganzes – und ist doch zum Schluss wieder nur das offene Ganze eines Augenblicks, in der nächsten Sekunde schon wieder überholt von ganz anderen, hier noch nicht erzählten Geschichten.
Rainer Wochele ergänzt diese literarischen Schnappschüsse mit anderen Textbausteinen: mit Erinnerungen an die Anfänge des Autobahnbaus in den 1920er und 30er Jahren, mit
Selbstdarstellungen von LKW-Berufsfahrern und mit Werbetexten für Automobile. So ergibt sich eine bemerkenswerte Spannung zwischen dem schönen Schein und professioneller Unterwegs-Prosa und dem wahren Sein existenzieller Niederungen. So politisch aufgeladen oder unfreiwillig überladen die hier integrierten Fremdtexte häufig wirken, Wochele selbst schreibt in scharfem Kontrast dazu nüchtern, präzise und betont undramatisch. Alles, von dem wir hier in aller Flüchtigkeit Augenzeuge werden, ist alltäglich und normal. Und selbst wenn, um beim Beispiel zu bleiben, den beiden Fahrern des Kastenwagens allmählich bewusst wird, dass die hinter ihnen eingesperrten Flüchtlinge vermutlich aus schlimmstem Grund keinen Laut mehr von sich geben, hält das den Erzählfluss nicht auf. An solch einem Punkt zeigt sich die Stärke des Bandes.
„Sie kommen, sie fahren. Und einmal Pommes mit Ketchup“: So weiß Wochele die ganze Wirklichkeit einer letztlich klitzekleinen Unterbrechung auf der Lebensfahrt ebenso lapidar wie treffend zusammenzufassen. Diese Rast lohnt.”
Tim Schleider, Stuttgarter Zeitung, 19.09.2019
„Rainer Wocheles Episodenroman mit seinen Momentaufnahmen, essayistischen Einlagen, seiner montageartigen Zitation von Berichten und seinen Rückblenden in die Zeit des Autobahnbaus im Nationalsozialismus, erinnert formal an Alfred Döblins Roman «Berlin Alexanderplatz». Während bei Döblin der Alexanderplatz zum Schnittpunkt des Grossstadtverkehrs wird, ist es bei Wochele die Raststätte Albheide, die immer wieder ins Zentrum tritt und so die Figuren und ihre Thematik bestimmt. Diese Raststätte, ja alle Rastplätze, die Strassen, die Autobahnen und die Autos selber werden in ihrer ständigen Bewegung und Rastlosigkeit letztlich zu Bildern menschlichen Daseins. Ein wunderbar modern gestalteter Roman, der durch die Aufhebung der geschlossenen Form, aber auch durch seine sprachliche Vielfalt, sichtbar in den häufig wechselnden Stillagen, die Vielfalt unserer modernen Welt spiegelt.”
Prof. Dr. Mario Andreotti – Dozent für Neuere deutsche Literatur und Buchautor
“Eine Textcollage zum Themenbereich Autobahn, Mobilität durch das Auto(mobil), fokussiert auf die Raststätten, zumal die Raststätte Albheide an der A 8 zwischen Ulm und Stuttgart. Kurze Prosatexte vermitteln Momentaufnahmen unterschiedlicher Personen und Lebensentwürfe: Es begegnet uns eine Bandbreite von Berufen vom Monteur über die Zeitungsausträgerin zum Landtagsabgeordneten, über den Metzgermeister zum Kunstsammler und Schriftsteller bis zu den Angestellten in den Raststätten – zentral und immer wieder die Trucker, deren Berufsfeld die Autobahn ist. Eine Textcollage: Eingezogen sind Texte zur Entstehungsgeschichte der Autobahnen, dem damit gezielt verknüpften Führermythos, und Werbetexte der Autoindustrie, unkommentiert, dem Leser traut Rainer Wochele ihre kritische Sichtung zu. Das gilt auch für die Prosatexte: Die Personen begegnen uns in ihrem undramatischen Alltag und in ihrem Selbstverständnis, sprachlich sind die Texte daher sehr unterschiedlich gearbeitet, die soziale Bandbreite spiegelt sich deutlich. Eine adäquate kritische Reflexion dieses Selbstverstehens oder des jeweiligen sozialen Kontextes verbleibt dem Leser; er kann es leisten – in aufmerksam verlangsamter Lektüre, nachdenklich und gelegentlich innehaltend. Exemplarisch der Einstieg, wuchtig, konzentriert, hoch gelungen: „Sie fahren. Sie kommen. Sie essen. Sie trinken. Und einmal Pommes mit Ketchup. Ruhen aus, reden, telefonieren. Und die Frischepfanne. Und norwegisches Lachsfilet mit Petersilienkartoffeln. Auf jeden sechsten Autobahnkilometer kam ein toter Arbeiter.“
Ein gelungenes Buch!”
Prof. Dr. Hanns Frericks
Nach dem Lesen der ersten Seiten des Buches fühle ich plötzlich den heftigen Schmerz des Versäumten: Obwohl ich mich immer bemühe, dem Augenblick der vergehenden Zeit nachzuspüren, habe ich es bisher in meiner mobilen Eile versäumt, beim Halt an einer Raststätte über die vermeintlichen Nebensächlichkeiten nachzudenken, die uns an diesem Durchgangsbahnhof der menschlichen Verstrickungen begegnen.
Der aufmerksame Blick für die unterschiedlichen Menschen, die Raststätten ansteuern, die weit ausgreifenden Assoziationen dazu und das feinsinnige Spiel mit Gedanken, die sich – in des Wortes ursprünglicher Bedeutung – um unsere Mobilität „drehen“ , das alles hat mich beeindruckt. Ebenso die unaufgeregte Darstellung der Gedankenbilder, schnörkellos und angenehm unverkopft, die mir Raum lassen für eigene Gedanken und Erinnerungen. Und die klare Sprache, die sich wohltuend absetzt von der heute allerorten zu vernehmenden Plapperei, die im Brackwasser der Beliebigkeit versinkt. Und – der Schriftsteller R.W. möge mir diese Bemerkung nachsehen – der „journalistische“ Kunstgriff, geschwollene Werbetexte der Autoindustrie listig in direkter Nachbarschaft des Alltäglichen ad absurdum zu führen – das hat mein Gemüt beim Lesen freudig hupfen lassen.
Überhaupt – ich liebe die kurze, präzise Form, den unerwartet aufblinkenden, halbfertigen Gedankenblitz – eine literarische Form, die wieder Aufwind bekommt, den der Autor genau zur richtigen Zeit gespürt hat. Vielen Dank für das schöne Lesevergnügen.
Manfred Bornemann, Journalist (ehem. Stuttgarter Zeitung)