Rainer Wochele

GREIF MAL IN DIE LEIER!

Erfahrungen eines Stadtschreibers/ von Rainer Wochele

Gott ja, manchmal ist unsereiner auf eine uns selbst immer wieder verblüffende Weise begeisterungsfähig, was sich dann später eben als hübsche Last und prickelnde Lust herausstellen kann, aber ich sage – doch, doch, das behaupte ich jetzt schon -, wer die Feuer der Begeisterung nicht immer wieder entfachen kann in sich, der lasse besser die Finger von der Schriftstellerei, vom öffentlichen Reden über Literatur anhand seiner Bücher, seines Schreibhandwerks.

Tja, und so habe ich denn in dieser aufsprudelnden Begeisterung darüber, dass mich der Vorstand des baden-württembergischen Schriftstellerverbandes dazu auserkoren hatte, von April bis Juli als erster Rottweiler Stadtschreiber (Monatssalär 2000 Mark) zu fungieren, und auch aus Freude darüber, dass mich der Erfinder und kommunalpolitische Promotor dieses Postens, der Rottweiler Stadtarchivar Winfried Hecht, um eine Liste jener Aktivitäten bat, die ich entfalten wollte, neben dem stadtschreiberischen Schreiben natürlich – da habe ich also erst mal alles notiert, was ich mir vorstellen konnte: Begrüßungslesung im Rathaus, Begrüßungslesung im Bischöflichen Gymnasialkonvikt, dem Katholischen Internat, in dem ich untergebracht sein sollte. Schreibwerkstatt. «Poeten-Bühne», eine Auftrittsmöglichkeit für literarische Debütanten. Literaturstammtisch. Lesungen in Rottweiler Familien. Verabschiedungslesung im Rathaus – nun, die Liste geriet ein wenig üppig. Und war dann eben, einmal in die Rottweiler Welt gesetzt, vom Stadtschreiber zu erfüllen. Und so habe ich, Folge des Begeisterungsfeuers, im Verlauf der drei herrlichen, intensiven, abwechslungsreichen Stadtschreibermonate, ich staune selbst, 19 literarische Veranstaltungen gemacht.

Die ganze literarische Palette

Ich musste mir das Stadtschreibern ja irgendwie erfinden. Ich wusste nur, dass in früheren Zeiten ein Stadtschreiber der oft juristisch geschulte Leiter der städtischen Kanzlei war, wusste, dass man Mitte der siebziger Jahre die erste literarische Stadtschreiberstelle im hessischen Städtchen Bergen-Enkheim eingerichtet hat, eine Form der Literatur- und Literatenförderung, die in anderen Städten vielfach nachgeahmt wurde und wird. Und dass nun Rottweil gleichfalls eine solche Stadtschreiberstelle einrichten wollte, beschickt mit einem Autor, jeweils im Frühjahr und Herbst abwechselnd, vom baden-württembergischen Schriftstellerverband und vom Schweizer Autorenverband Gruppe Olten. Wäre ich da nicht schlecht beraten gewesen, wenn ich nicht die ganze mir zur Verfügung stehende Palette literarischer Aktivitäten entfaltet hätte (naja, andere können mehr, ich kann halt das, was ich kann), um den Rottweiler Bürgerinnen und Bürgern, aber auch den Kommunalpolitikern klar zu machen, dass eine solche Stadtschreiberstelle eine gute und löbliche Sache sei?

So dachte ich mir, greif mal ordentlich in die Leier und spiel den Rottweilern dein Literaturliedchen, das Liedchen, das du spielen kannst. Und dass ich nun hier von solchem Liedchen und den Reaktionen darauf nicht kühl, distanziert, sondern nur subjektiv und begeisterungsdurchwärmt berichten kann, sehe man mir bitte freundlich nach.

«Ich kann mir ein Leben ohne Literatur nicht vorstellen.» Diesen wunderbaren Satz, diesen herrlichen Satz sagte ein Zuhörer nach einer meiner Lesungen aus meinem neuen Roman «Das Mädchen, der Minister, das Wildschwein». Ein Satz, Balsam für die Seele eines jeden Schriftstellers, ein Satz aber auch, der zeigt, welch glühende Literaturlieber Rottweil hat. «Wir können doch jetzt nicht aufhören”, sagte ein Teilnehmer der Schreibwerkstatt, die ich für Gymnasiasten und sonstige Interessenten veranstaltet habe, als diese nach drei Sitzungen zu Ende gehen sollte. Und so haben wir eine weitere Sitzung nachgeschoben. Hörenswerte, beachtenswerte Texte sind da entstanden, die deutlich Beifall fanden, als sie im Rathaus bei der Abschlussveranstaltung des Stadtschreibers von den Verfassern vorgetragen wurden. Und beinahe nicht aufhören mit einer hitzigen Debatte über Literatur und Kunst und die Welt im Allgemeinen wollten die gut 15 Gäste und der Stadtschreiber im Verlauf einer der «Familienlesungen» in einem Rottweiler Wohnzimmer; man redete sich die Köpfe heiß bis lange nach Mitternacht.

Diese und manch andere Situationen haben mir deutlich gemacht, ja, Rottweil ist gewissermaßen stadtschreiberbedürftig. Sofern man dies versteht als ein für mich in den drei Monaten spürbar gewordenes Bedürfnis nach erweitertem und vertiefendem Umgang mit Literatur. Bedürfnis nach einem Dialog mit einer Stimme, der Stadtschreiberstimme, die Literatur macht, Literatur vermittelt.

Was sagt schon die Quote

Und als sozusagen stadtschreiberfähig ist mir Rottweil erschienen, weil ich vielfältig positive Resonanz gefunden habe, Interesse, ja Neugier. Und dass sich solche Neugier, solches Interesse nicht immer manifestiert hat im Zulauf heller Heerscharen, sozusagen in Riesenquote, sagt nichts aus über Intensität und Nachhaltigkeit solchen Interesses. Im Bereich der Literatur, so bin ich überzeugt, müssen mehr und mehr andere Maßstäbe gelten als jene der großen Zahl.

Literarischer Stammtisch in der Rottweiler Stadtbücherei: kleiner Kreis, aber beste Gespräche. «Poetenbühne» im feinen Rottweiler Dominikanermuseum: zehn Gelegenheitsautorinnen und schriftstellerische Anfänger, die an dem vom Stadtschreiber moderierten Abend einem sechzigköpfigen Publikum ihre Texte zu Gehör brachten.

Bei alledem war mir das Bischöfliche Gymnasialkonvikt, dieses liberale kirchliche Internat, das sich in einem schön restaurierten ehemaligen Jesuitenkloster im Zentrum der Stadt befindet, bestes Basislager, um in der Bergsteigersprache zu reden. Man hat mich dort gut behaust: Zimmer mit Blick über den Neckar hin zur Alb, manchmal fast toskanisch anmutend. Man hat mich gut beköstigt. Man ist gut zu mir gewesen. Die Schülerinnen und Schüler, die Erzieher, der Konviktsleiter Thomas Krieg, ohne dessen Bereitschaft, Kost und Logis zu stellen, der Stadtschreiberposten nicht zu machen wäre, sie alle sind mir offen, freundlich, interessiert gegenübergetreten. Da gab es manch gutes Gespräch, manch guten Einblick des Autors in jugendliches Leben heute und was es heißen kann, in einer sich aufsplitternden Gesellschaft auf undogmatische Weise jungen Leuten Werte, auch spirituelle Werte und Sozialverhalten zu vermitteln.

Gassenmomente, Häusersprüche

Und geschrieben, wird man fragen, hat der Stadtschreiber auch geschrieben über Rottweil? Er hat. Ein gutes Dutzend kürzerer und längerer erzählerischer, reflektierender, sprachspielerischer Texte, die sich gruppieren lassen zu den Stichworten: Gassenmomente; ja, die Rottweiler Innenstadtgassen und ihre Atmosphäre. An vielen Rottweiler Häusern findet man Sprache, Sprüche, die sich drehen und wenden lassen. Texte über Rottweiler Gesichter und auch eine etwas wüst geratene Litanei zum Rottweiler Innenstadtverkehr.

Manchesmal wurde ich halb im Scherz, halb im Ernst gefragt, ob ich denn als Stadtschreiber nun den großen Rottweil-Roman schriebe, oder zumindest einen Rottweil-Krimi. Nein, musste ich da jedes Mal sagen. Aber im Nachhinein will mir scheinen, ich hätte als Stadtschreiber nach Lesungen, in der Schreibwerkstatt, beim Literaturstammtisch romanhaft viel geredet übers Romaneschreiben. Und mir will scheinen, drei Monate Stadtschreiber in Rottweil: so spannend wie ein Krimi. Den man sich, erhitzt von auflodernden Begeisterungsflammen, auch noch selbst inszeniert hat. (Stuttgarter Zeitung)

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Rainer Wochele copyright 2004-2011 ff.